Narrativismus in Pen-and-Paper-Rollenspielen: Ein umfassender Leitfaden

Narrativismus in Pen-and-Paper-Rollenspielen: Ein umfassender Leitfaden

Was ist Narrativismus?

Narrativismus ist ein Begriff aus der Rollenspieltheorie, der einen Spielstil in Pen-and-Paper-Rollenspielen (P&P RPGs) beschreibt, bei dem der Fokus auf dem Erschaffen einer kohärenten, bedeutungsvollen und dramatisch befriedigenden Geschichte liegt. Im narrativen Spiel steht das gemeinsame Erzählen einer Geschichte im Vordergrund, bei der die Spieler und der Spielleiter aktiv die Handlung, die Charakterentwicklung und die Themen der Geschichte mitgestalten. Narrativismus ist einer der drei Hauptspielstile im Modell des Gamismus, Narrativismus und Simulationismus (GNS-Modell), das von Ron Edwards entwickelt wurde.

In einem narrativistischen Spiel geht es weniger darum, ein Spiel zu "gewinnen" oder einen Charakter zu optimieren, sondern vielmehr darum, eine interessante und emotional ansprechende Geschichte zu erleben und zu gestalten. Die Regeln und Mechaniken des Spiels dienen dazu, die Erzählung zu unterstützen und dramatische Entscheidungen und Wendepunkte zu erzeugen.

Merkmale des narrativen Spielstils

Ein narrativistischer Spielstil zeichnet sich oft durch die folgenden Merkmale aus:

  • Fokus auf die Geschichte: Die Geschichte und ihre Entwicklung stehen im Mittelpunkt des Spiels. Die Handlungen der Charaktere und die Entscheidungen der Spieler treiben die Erzählung voran.
  • Charakterentwicklung: Die Entwicklung der Charaktere, ihre inneren Konflikte, Beziehungen und persönlichen Geschichten sind von zentraler Bedeutung.
  • Themen und Motive: Narrative Spiele behandeln oft übergreifende Themen und Motive, die der Geschichte eine tiefere Bedeutung verleihen, z. B. Liebe, Verrat, Rache, Erlösung oder moralische Dilemmata.
  • Spieler-Empowerment: Die Spieler haben oft mehr Einfluss auf die Gestaltung der Geschichte und der Spielwelt als in anderen Spielstilen. Sie können aktiv in die Erzählung eingreifen und den Verlauf der Handlung mitbestimmen.
  • Meta-Ebene: In narrativen Spielen wird oft auf einer Meta-Ebene über die Geschichte und ihre Elemente gesprochen. Die Spieler können z. B. über die Motivationen ihrer Charaktere diskutieren oder gemeinsam den Ausgang einer Szene aushandeln.
  • Regeln als Werkzeug: Die Regeln und Mechaniken dienen dazu, die Erzählung zu unterstützen und zu strukturieren. Sie sind oft weniger detailliert und lassen mehr Raum für Interpretation und Improvisation als in simulationistischen oder gamistischen Spielen.
  • Dramatische Entscheidungen: Narrative Spiele stellen die Charaktere oft vor schwierige Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen, die den Verlauf der Geschichte und die Entwicklung der Charaktere beeinflussen.
  • Kein klares "Gewinnen" oder "Verlieren": In narrativen Spielen gibt es oft kein klares Ziel, das es zu erreichen gilt, oder einen Endgegner, der besiegt werden muss. Stattdessen geht es darum, eine befriedigende und bedeutungsvolle Geschichte zu erleben.

Beispiele für narrative Systeme

Es gibt viele Rollenspielsysteme, die einen narrativen Spielstil unterstützen oder sogar in den Mittelpunkt stellen. Einige bekannte Beispiele sind:

  • Fate: Ein universelles System, das auf Aspekten und Schicksalspunkten basiert und den Spielern viele Freiheiten bei der Gestaltung der Geschichte und der Charaktere gibt.
  • Apocalypse World: Ein stilprägendes Spiel, das den Grundstein für das "Powered by the Apocalypse"-System gelegt hat. Es verwendet ein einfaches, aber elegantes Regelsystem mit sogenannten "Moves", die die Erzählung vorantreiben.
  • Blades in the Dark: Ein Spiel über eine Gruppe von Kriminellen in einer düsteren, viktorianisch anmutenden Stadt. Es verwendet ein einzigartiges System für die Planung und Durchführung von Raubzügen und legt einen starken Fokus auf die Konsequenzen der Spielerhandlungen.
  • Fiasco: Ein Spielleiter-loses Spiel, in dem die Spieler gemeinsam eine Geschichte über gewöhnliche Menschen mit großen Ambitionen und schlechter Impulskontrolle erzählen. Es ist inspiriert von Filmen wie *Fargo* und *Burn After Reading* und endet oft in einer Katastrophe.
  • Microscope: Ein Spiel, in dem die Spieler gemeinsam die Geschichte einer fiktiven Welt oder Zivilisation erschaffen, indem sie in großen Schritten durch die Zeit springen und Ereignisse und Epochen definieren.
  • Dungeon World: Eine Fantasy-Adaption des *Apocalypse World*-Systems, die klassische Dungeon-Abenteuer mit einem narrativen Ansatz kombiniert.
  • Lady Blackbird: Ein Steampunk-Abenteuerspiel mit vorgefertigten Charakteren und einem Fokus auf Improvisation und Charakterbeziehungen.

Abgrenzung zu anderen Spielstilen

In der Rollenspieltheorie wird Narrativismus oft dem Gamismus und dem Simulationismus gegenübergestellt. Diese drei Begriffe, die zusammen das GNS-Modell bilden, beschreiben unterschiedliche Prioritäten und Herangehensweisen an das Rollenspiel:

  • Gamismus: Der Fokus liegt auf dem Spiel als Herausforderung, auf dem Wettbewerb und auf der Optimierung von Charakteren und Strategien, um im Spiel erfolgreich zu sein (siehe Artikel zu "Gamismus").
  • Simulationismus: Der Fokus liegt auf der Erschaffung einer glaubwürdigen und realistischen Spielwelt, in der die Regeln die physikalischen und sozialen Gesetze der Welt abbilden (siehe Artikel zu "Simulationismus").
  • Narrativismus: Der Fokus liegt auf dem Erschaffen einer bedeutungsvollen und dramatisch befriedigenden Geschichte, auf der Charakterentwicklung und auf übergreifenden Themen.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Begriffe idealtypische Konzepte sind und dass die meisten Spieler und Spielrunden Elemente aus allen drei Ansätzen kombinieren. Es geht also nicht darum, einen Stil als den "richtigen" zu bezeichnen, sondern vielmehr darum, die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Hobby zu verstehen und zu würdigen.

Techniken und Methoden des narrativen Spiels

Es gibt verschiedene Techniken und Methoden, die in narrativen Spielen zum Einsatz kommen, um die Geschichte und die Charakterentwicklung zu fördern:

  • Aspekte: In *Fate* und anderen Systemen sind Aspekte kurze, prägnante Sätze, die wichtige Merkmale, Überzeugungen oder Beziehungen eines Charakters, eines Ortes oder einer Situation beschreiben. Sie können im Spiel aktiviert werden, um die Geschichte zu beeinflussen oder Boni zu erhalten.
  • Moves: In *Powered by the Apocalypse*-Spielen wie *Apocalypse World* oder *Dungeon World* gibt es sogenannte "Moves", die durch bestimmte Aktionen oder Situationen im Spiel ausgelöst werden und den Fortgang der Geschichte strukturieren.
  • Schicksalspunkte/Bennies/Erzählchips: Viele narrative Spiele verwenden eine Art von Meta-Währung, die die Spieler ausgeben können, um die Geschichte zu ihren Gunsten zu beeinflussen, z. B. um Würfelwürfe zu wiederholen, Aspekte zu aktivieren oder neue Details zur Szene hinzuzufügen.
  • Gemeinsame Welterschaffung: In manchen narrativen Spielen, wie z. B. *Microscope*, erschaffen die Spieler die Spielwelt gemeinsam zu Beginn des Spiels oder im Laufe der Geschichte.
  • Rückblenden und Vorausschauen: Einige narrative Spiele erlauben es den Spielern, Szenen aus der Vergangenheit oder der Zukunft ihrer Charaktere auszuspielen, um ihre Hintergrundgeschichte zu vertiefen oder zukünftige Ereignisse vorzubereiten.
  • Spiel ohne Spielleiter: Es gibt auch narrative Spiele, die ganz ohne Spielleiter auskommen, wie z. B. *Fiasco* oder *Microscope*. In diesen Spielen übernehmen die Spieler abwechselnd die Rolle des Erzählers und gestalten die Geschichte gemeinsam.

Die Rolle der Spieler im narrativen Spiel

In narrativen Spielen haben die Spieler oft eine aktivere und verantwortungsvollere Rolle als in traditionellen Rollenspielen. Sie sind nicht nur Ausführende der Anweisungen des Spielleiters, sondern Mitgestalter der Geschichte.

Einige Merkmale der Spielerrolle im narrativen Spiel sind:

  • Mehr Einfluss auf die Geschichte: Die Spieler haben oft mehr Möglichkeiten, die Handlung, die Spielwelt und die Entwicklung ihrer Charaktere aktiv mitzugestalten.
  • Gemeinsame Verantwortung für die Erzählung: Die Spieler tragen gemeinsam mit dem Spielleiter die Verantwortung für die Geschichte und den Spielspaß. Sie sollten sich aktiv einbringen, die Ideen der anderen aufgreifen und konstruktiv auf die Handlung einwirken.
  • Fokus auf Charakterentwicklung: Die Spieler sollten sich Gedanken über die inneren Konflikte, die Motivationen und die Entwicklung ihrer Charaktere machen und diese aktiv ins Spiel einbringen.
  • Bereitschaft zur Improvisation: Narratives Spiel erfordert oft ein hohes Maß an Improvisationstalent und die Bereitschaft, sich auf unerwartete Wendungen einzulassen.
  • Meta-Kommunikation: In narrativen Spielen ist es oft notwendig und erwünscht, sich auf einer Meta-Ebene über die Geschichte, die Regeln und die Erwartungen auszutauschen.

Die Rolle des Spielleiters im narrativen Spiel

Auch die Rolle des Spielleiters unterscheidet sich in narrativen Spielen oft von der in traditionellen Rollenspielen. Der Spielleiter ist weniger ein allwissender Geschichtenerzähler und Regisseur, sondern eher ein Moderator, Impulsgeber und Mitspieler.

Einige Merkmale der Spielleiterrolle im narrativen Spiel sind:

  • Weniger Vorbereitung: Narrative Spiele erfordern oft weniger detaillierte Vorbereitung durch den Spielleiter, da die Geschichte stärker improvisiert und von den Spielern mitgestaltet wird.
  • Flexibilität und Offenheit: Der Spielleiter sollte offen für die Ideen und Vorschläge der Spieler sein und die Geschichte in unerwartete Richtungen lenken lassen.
  • Fokus auf die Spieler: Der Spielleiter sollte die Spieler und ihre Charaktere in den Mittelpunkt stellen und ihnen Raum geben, die Geschichte aktiv zu gestalten.
  • Schaffung von Gelegenheiten: Der Spielleiter sollte den Spielern interessante und herausfordernde Situationen präsentieren, die sie dazu anregen, Entscheidungen zu treffen und die Geschichte voranzutreiben.
  • Unterstützung der Erzählung: Der Spielleiter sollte die Erzählung der Spieler unterstützen, indem er passende Beschreibungen liefert, NSCs einführt und die Regeln anwendet, um die Geschichte zu strukturieren.
  • Vermittlung von Regeln: Der Spielleiter sollte die Regeln des Spiels vermitteln und den Spielern helfen, sie zu verstehen und anzuwenden.

Vorteile des narrativen Spielstils

Der narrative Spielstil bietet einige Vorteile:

  • Mehr kreative Freiheit: Die Spieler haben mehr Freiheiten und Möglichkeiten, die Geschichte und die Spielwelt aktiv mitzugestalten.
  • Stärkerer Fokus auf die Charaktere: Die Charakterentwicklung, die inneren Konflikte und die Beziehungen der Charaktere stehen im Mittelpunkt des Spiels.
  • Emotionaleres Spielerlebnis: Narratives Spiel kann zu intensiveren und emotionaleren Spielerlebnissen führen, da die Spieler stärker in die Geschichte und die Schicksale ihrer Charaktere involviert sind.
  • Einzigartige Geschichten: Durch die aktive Beteiligung der Spieler entstehen oft einzigartige und unvorhersehbare Geschichten, die sich von vorgefertigten Abenteuern abheben.
  • Weniger Vorbereitung für den Spielleiter: Da die Geschichte stärker improvisiert wird, ist oft weniger detaillierte Vorbereitung durch den Spielleiter nötig.
  • Größere Spieler-Identifikation: In narrativen Spielen identifizieren sich die Spieler oft noch stärker mit ihren Charakteren und der Geschichte, da sie aktiv an deren Gestaltung beteiligt sind.

Kritik am Narrativismus

Trotz seiner Vorteile ist der narrative Spielstil auch nicht unumstritten. Einige Kritikpunkte sind:

  • Mangelnde Herausforderung: Manche Spieler empfinden narrative Spiele als weniger herausfordernd, da der Fokus weniger auf dem Meistern von spielmechanischen Aufgaben liegt.
  • Subjektivität und Willkür: Da die Geschichte und die Ergebnisse von Aktionen oft ausgehandelt werden, besteht die Gefahr, dass Entscheidungen subjektiv oder willkürlich wirken.
  • Fehlende Struktur: Manche Spieler vermissen in narrativen Spielen eine klare Struktur und einen festen Handlungsrahmen.
  • Abhängigkeit von der Gruppe: Narratives Spiel funktioniert am besten mit Spielern, die gut miteinander harmonieren, sich aufeinander einlassen und gemeinsam an der Geschichte arbeiten können. In manchen Gruppen kann dies zu Problemen führen.
  • Schwieriger Einstieg: Für manche Spieler ist der Einstieg in narrative Spiele schwieriger, da sie oft ein anderes Denken und eine aktivere Beteiligung erfordern als traditionelle Rollenspiele.
  • "Pseudonarrativismus": Manche traditionellen Spiele schmücken sich mit narrativen Elementen, ohne dass sich am eigentlichen Spielstil viel ändert. Dies wird von Kritikern als Etikettenschwindel empfunden.

Fazit

Narrativismus ist ein wichtiger und einflussreicher Ansatz im modernen Pen-and-Paper-Rollenspiel. Er stellt die gemeinsame Erzählung, die Charakterentwicklung und die Mitgestaltung der Geschichte durch die Spieler in den Mittelpunkt des Spielerlebnisses. Narrative Spiele bieten oft mehr Freiheiten, erfordern aber auch mehr Engagement, Kreativität und Kooperationsbereitschaft von allen Beteiligten. Ob man nun ein Fan von narrativen Spielen ist oder nicht, sie haben die Welt der P&P RPGs nachhaltig verändert und erweitert. Sie bieten eine wertvolle Alternative zu traditionelleren Spielstilen und haben dazu beigetragen, dass das Hobby heute vielfältiger und facettenreicher ist denn je. Letztlich kommt es darauf an, den Spielstil zu finden, der am besten zu den eigenen Vorlieben und denen der Spielgruppe passt, um gemeinsam unvergessliche Geschichten am Spieltisch zu erleben.