Rollenspieltheorie in P&P RPGs: Ein umfassender Leitfaden
Was ist Rollenspieltheorie?
Rollenspieltheorie ist ein Bereich der Spieltheorie und der Medienwissenschaft, der sich mit der systematischen Untersuchung von Pen-and-Paper-Rollenspielen (P&P RPGs) beschäftigt. Sie versucht, die Strukturen, Mechanismen und Dynamiken von Rollenspielen zu analysieren, zu beschreiben und zu erklären. Rollenspieltheorie befasst sich mit Fragen wie: Was ist ein Rollenspiel? Wie funktionieren Rollenspiele? Welche unterschiedlichen Arten von Rollenspielen und Spielstilen gibt es? Wie interagieren die Spieler und der Spielleiter miteinander? Welche Rolle spielen die Regeln, die Spielwelt und die Geschichte? Wie entstehen Spielspaß und Immersion? Und wie kann man Rollenspiele besser gestalten und verstehen?
Rollenspieltheorie ist ein interdisziplinäres Feld, das Ansätze aus der Spielwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Soziologie, der Psychologie, der Kommunikationswissenschaft und anderen Bereichen integriert. Sie ist sowohl für Rollenspiel-Designer und Autoren als auch für Spielleiter und Spieler von Interesse, die ihr Verständnis des Hobbys vertiefen und ihr Spielerlebnis verbessern möchten.
Die Geschichte der Rollenspieltheorie
Die Anfänge der Rollenspieltheorie lassen sich bis in die 1970er und 1980er Jahre zurückverfolgen, als die ersten P&P RPGs wie *Dungeons & Dragons* aufkamen und sich eine wachsende Community um das Hobby bildete. In den Anfangsjahren waren die Diskussionen über Rollenspiele oft stark von den persönlichen Erfahrungen und Vorlieben der Spieler geprägt und weniger von systematischen oder theoretischen Ansätzen.
In den 1990er Jahren entstanden erste Versuche, Rollenspiele aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu betrachten, z. B. in Form von soziologischen oder psychologischen Studien zum Rollenspiel. Gleichzeitig entwickelten sich in Online-Foren und -Diskussionsgruppen wie rec.games.frp.\* im Usenet oder später auf Plattformen wie The RPG Site und RPGnet eigene rollenspieltheoretische Diskurse.
Einer der einflussreichsten Beiträge zur Rollenspieltheorie war das Drei-Ebenen-Modell (auch bekannt als "Threefold Model" oder "GDS Model") von Mary Kuhner, das 1997-1998 auf rec.games.frp.advocacy entwickelt wurde. Es unterschied zwischen den drei Ebenen Dramatism (Rollenspiel und Charakterdarstellung), Gamism (Herausforderung und Wettbewerb) und Simulationism (Realismus und Simulation der Spielwelt) und prägte die Diskussionen der folgenden Jahre maßgeblich.
Einen weiteren wichtigen Meilenstein stellte das GNS-Modell von Ron Edwards dar, das ab 1999 auf der Website The Forge entwickelt wurde. Es unterschied zwischen den drei kreativen Agenden Gamism (Spiel als Herausforderung), Narrativism (Spiel als Erzählung) und Simulationism (Spiel als Simulation) und betonte die Bedeutung von klaren und kohärenten kreativen Zielen beim Spieldesign und am Spieltisch.
In den 2000er Jahren entstanden weitere Modelle und Ansätze, wie z. B. das Big Model von Ron Edwards, das ADEPT-Modell oder die Channel-Theorie. Gleichzeitig öffnete sich die Rollenspieltheorie verstärkt für akademische Perspektiven und interdisziplinäre Ansätze.
Heute ist Rollenspieltheorie ein lebendiges und vielfältiges Feld mit einer regen Online-Community, zahlreichen Blogs, Podcasts und Foren sowie wachsendem akademischen Interesse. Sie entwickelt sich ständig weiter und trägt dazu bei, das Verständnis von Rollenspielen zu vertiefen und das Hobby in all seinen Facetten zu erforschen.
Wichtige Modelle und Ansätze
Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Modelle und Ansätze entwickelt, um Rollenspiele zu analysieren, zu kategorisieren und zu gestalten. Einige der wichtigsten und einflussreichsten sind:
Das GNS-Modell
Das GNS-Modell, entwickelt von Ron Edwards, ist eines der bekanntesten und am meisten diskutierten Modelle der Rollenspieltheorie. Es postuliert, dass es drei grundlegende kreative Agenden oder Zielsetzungen im Rollenspiel gibt:
- Gamism (Spiel): Der Fokus liegt auf Herausforderung, Wettbewerb und dem Gewinnen im Rahmen der Spielregeln. Gamisten schätzen gut ausbalancierte Regeln, taktische Tiefe und die Optimierung von Charakteren.
- Narrativism (Erzählung): Der Fokus liegt auf dem Erschaffen einer kohärenten, bedeutungsvollen und dramatisch befriedigenden Geschichte. Narrativisten schätzen Charakterentwicklung, innere Konflikte und das Behandeln von übergreifenden Themen.
- Simulationism (Simulation): Der Fokus liegt auf der Erschaffung einer glaubwürdigen und realistischen Spielwelt, in der die Regeln die physikalischen und sozialen Gesetze der Welt abbilden. Simulationisten schätzen Detailreichtum, Konsistenz und die Simulation von realen oder fantastischen Phänomenen.
Nach Edwards hat jede Spielrunde und jedes Rollenspielsystem eine primäre kreative Agenda, die den Spielstil und die Erwartungen der Teilnehmer bestimmt. Konflikte und Unzufriedenheit entstehen oft, wenn die Teilnehmer unterschiedliche oder inkompatible Agenden verfolgen.
Das GNS-Modell wurde in der Rollenspiel-Community intensiv diskutiert, erweitert und kritisiert. Es entstanden zahlreiche Varianten und alternative Modelle, die auf seinen Grundideen aufbauen oder sie in Frage stellen.
Das Drei-Ebenen-Modell (Dramatism, Gamism, Simulationism)
Das Drei-Ebenen-Modell, auch bekannt als "Threefold Model" oder "GDS Model", wurde von Mary Kuhner in den späten 1990er Jahren entwickelt und ist ein Vorläufer des GNS-Modells. Es unterscheidet drei grundlegende Motivationen oder Herangehensweisen an das Rollenspiel:
- Dramatism (auch Narrativismus): Die Spieler wollen eine gute, dramatische Geschichte mit interessanten Charakteren erschaffen. Der Fokus liegt auf dem Rollenspiel, der Charakterentwicklung und der Handlung.
- Gamism: Die Spieler sehen das Spiel als eine Herausforderung, die es zu meistern gilt. Sie wollen gewinnen, ihre Charaktere optimieren und die Regeln zu ihrem Vorteil nutzen.
- Simulationism: Die Spieler wollen eine glaubwürdige und realistische Simulation der Spielwelt erleben. Sie legen Wert auf Detailtreue, Konsistenz und innere Logik.
Das Drei-Ebenen-Modell war sehr einflussreich und prägte die frühe Rollenspieltheorie maßgeblich. Es wurde aber auch kritisiert, unter anderem für seine unscharfe Definition der Ebenen und die Schwierigkeit, sie in der Praxis klar voneinander abzugrenzen.
The Big Model
The Big Model ist eine Weiterentwicklung des GNS-Modells durch Ron Edwards. Es erweitert das ursprüngliche Modell um weitere Konzepte und Ebenen und versucht, die verschiedenen Aspekte des Rollenspiels umfassender zu beschreiben.
Einige der wichtigsten Konzepte des Big Model sind:
- Social Contract: Die unausgesprochenen oder expliziten Vereinbarungen und Erwartungen, die die Spieler in Bezug auf das Spiel, die Regeln und die Interaktion am Spieltisch haben.
- Exploration: Der Prozess, durch den die Spieler und der Spielleiter die Spielwelt, die Charaktere und die Situation erkunden und mit Bedeutung füllen.
- Technique: Die konkreten Methoden, Werkzeuge und Verfahren, die im Spiel verwendet werden, um die kreative Agenda umzusetzen, z. B. Würfelmechaniken, Erzähltechniken oder die Gestaltung von Charakterbögen.
- Ephemera: Die konkreten Äußerungen und Handlungen, die während des Spiels am Spieltisch stattfinden, z. B. das, was die Spieler sagen und tun, die Würfelergebnisse und die Beschreibungen des Spielleiters.
- Incoherence vs. Coherence: Das Ausmaß, in dem die verschiedenen Elemente des Spiels (Regeln, Setting, Charaktere, Handlungen) ein stimmiges und bedeutungsvolles Ganzes bilden oder aber widersprüchlich und unzusammenhängend wirken.
Das Big Model ist deutlich komplexer als das ursprüngliche GNS-Modell und hat in der Rollenspiel-Community sowohl Zustimmung als auch Kritik hervorgerufen.
Das ADEPT-Modell
Das ADEPT-Modell ist ein neuerer Ansatz von Matt Wilson, der auf dem Big Model aufbaut und es weiterentwickelt. Es unterscheidet fünf Dimensionen des Rollenspiels:
- Agenda: Die übergeordneten Ziele und Prioritäten der Spieler und des Spielleiters, z. B. das Erschaffen einer Geschichte, das Meistern von Herausforderungen oder das Erkunden einer Spielwelt.
- Direction: Die Art und Weise, wie die Verantwortung und die Kontrolle über die Geschichte, die Charaktere und die Spielwelt zwischen den Spielern und dem Spielleiter aufgeteilt sind.
- Emphasis: Die Aspekte des Spiels, die besonders betont und hervorgehoben werden, z. B. Kämpfe, Rätsel, Rollenspiel oder Welterkundung.
- Presentation: Die Art und Weise, wie das Spiel präsentiert und visualisiert wird, z. B. durch Beschreibungen, Bilder, Musik oder den Einsatz von Miniaturen.
- Technique: Die konkreten Methoden, Regeln und Werkzeuge, die im Spiel verwendet werden, z. B. Würfelsysteme, Charaktererschaffung oder Konfliktlösung.
Das ADEPT-Modell versucht, die Vielfalt der Rollenspielstile und -präferenzen differenzierter abzubilden als das GNS-Modell und die verschiedenen Dimensionen des Spiels miteinander in Beziehung zu setzen.
Weitere Ansätze und Konzepte
Neben den genannten Modellen gibt es noch viele weitere Ansätze und Konzepte in der Rollenspieltheorie, die sich mit verschiedenen Aspekten des Hobbys beschäftigen. Einige davon sind:
- Die vier Spielertypen nach Bartle: Richard Bartle unterscheidet vier Typen von Spielern in Online-Rollenspielen (Achievers, Explorers, Socializers, Killers), die sich auch auf P&P RPGs übertragen lassen.
- Die sieben narrativen Grundmuster: Christopher Booker beschreibt in seinem Buch "The Seven Basic Plots" sieben grundlegende Handlungsstrukturen, die sich in vielen Geschichten und auch in Rollenspielabenteuern wiederfinden.
- Die Heldenreise: Joseph Campbells Konzept der Heldenreise oder des Monomythos beschreibt die typischen Stationen und Phasen, die ein Held im Laufe einer Geschichte durchläuft (siehe Artikel zu "Held").
- Die dramaturgische Struktur: Konzepte aus der Dramaturgie und dem Drehbuchschreiben, wie z. B. der Drei-Akt-Aufbau, der Plot Point oder die Charakterentwicklung, können auch auf das Rollenspiel angewendet werden.
- Die Lumpley-Prinzipien: D. Vincent Baker, der Autor von *Apocalypse World*, hat eine Reihe von Prinzipien für das Spielleiten und das Spieldesign formuliert, die als "Lumpley-Prinzipien" bekannt geworden sind.
- Spielvertrag (Social Contract): Die oft unausgesprochenen Übereinkünfte und Erwartungen, die die Spieler und der Spielleiter in Bezug auf das Spiel, die Regeln und die Interaktion am Spieltisch haben.
- Sicherheitswerkzeuge: Konzepte wie die X-Karte, Lines and Veils oder Open Door Policy, die dazu dienen, ein sicheres und angenehmes Spielerlebnis für alle Beteiligten zu gewährleisten (siehe Artikel zu "Horror").
Einfluss der Rollenspieltheorie
Die Rollenspieltheorie hat das Hobby in mehrfacher Hinsicht beeinflusst und verändert:
- Bewusstsein für unterschiedliche Spielstile: Die verschiedenen Modelle und Ansätze haben dazu beigetragen, das Bewusstsein für die Vielfalt der Spielstile und die unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorlieben der Spieler zu schärfen.
- Verbesserte Kommunikation: Die Rollenspieltheorie bietet eine gemeinsame Sprache und Konzepte, um über das Spiel zu sprechen, Erwartungen zu klären und Missverständnisse zu vermeiden.
- Gezielteres Spieldesign: Die in der Rollenspieltheorie entwickelten Modelle und Prinzipien können als Werkzeuge für das Design von Rollenspielen dienen und dazu beitragen, dass die Regeln und Mechaniken eines Spiels die gewünschte Spielerfahrung unterstützen.
- Kritische Reflexion: Die Rollenspieltheorie regt dazu an, das eigene Spiel und die Konventionen des Hobbys kritisch zu hinterfragen und nach neuen, kreativen Ansätzen zu suchen.
- Entstehung neuer Spiele: Viele der neueren, insbesondere der narrativ orientierten Rollenspiele wurden stark von rollenspieltheoretischen Überlegungen beeinflusst und versuchen, bestimmte Spielstile oder Agenden gezielt zu unterstützen.
- Akademische Forschung: Die Rollenspieltheorie hat auch den Weg für eine akademische Beschäftigung mit dem Thema Rollenspiel bereitet und zu einem besseren Verständnis des Hobbys aus wissenschaftlicher Perspektive beigetragen.
Kritik an der Rollenspieltheorie
Trotz ihrer Verdienste ist die Rollenspieltheorie nicht unumstritten. Einige Kritikpunkte sind:
- Zu theoretisch und abgehoben: Manche Kritiker werfen der Rollenspieltheorie vor, zu akademisch und praxisfern zu sein und die Bedürfnisse und Erfahrungen der "normalen" Spieler aus dem Blick zu verlieren.
- Vereinfachende Modelle: Die in der Rollenspieltheorie verwendeten Modelle und Kategorien werden oft als zu vereinfachend kritisiert und können der Komplexität und Vielfalt des Hobbys nicht gerecht werden.
- Elitäres Gehabe: Manche Kritiker empfinden die Sprache und die Konzepte der Rollenspieltheorie als elitär und abschreckend für Neulinge oder Gelegenheitsspieler.
- Bevormundung der Spieler: Die Festlegung auf bestimmte Spielstile oder "Agenden" kann als Bevormundung oder Einschränkung der Spieler wahrgenommen werden.
- Mangel an empirischer Grundlage: Viele rollenspieltheoretische Ansätze basieren auf subjektiven Beobachtungen und Spekulationen und sind nicht durch empirische Forschung oder wissenschaftliche Methoden abgesichert.
- Fokus auf Nischenthemen: Manche Kritiker bemängeln, dass sich die Rollenspieltheorie zu sehr mit Nischenthemen und Randaspekten des Hobbys beschäftigt, anstatt sich auf die zentralen und relevanten Fragen zu konzentrieren.
Praktischer Nutzen der Rollenspieltheorie
Trotz der genannten Kritikpunkte kann die Auseinandersetzung mit Rollenspieltheorie für Spieler, Spielleiter und Spieldesigner durchaus nützlich sein:
- Erweitertes Verständnis: Rollenspieltheorie kann helfen, das eigene Spiel und das Hobby als Ganzes besser zu verstehen und die verschiedenen Ansätze und Möglichkeiten zu erkennen.
- Verbesserte Kommunikation: Sie bietet eine gemeinsame Sprache und Konzepte, um über das Spiel zu sprechen, Erwartungen zu klären und Missverständnisse zu vermeiden.
- Bewusstere Entscheidungen: Die Kenntnis verschiedener Spielstile und kreativer Agenden kann Spielern und Spielleitern helfen, bewusstere Entscheidungen über ihr Spiel zu treffen und es gezielter an ihren Vorlieben auszurichten.
- Gezielte Problemlösung: Wenn es in einer Spielrunde zu Problemen oder Konflikten kommt, können rollenspieltheoretische Ansätze helfen, die Ursachen zu analysieren und Lösungen zu finden.
- Inspiration für Spieldesign: Für Spieldesigner kann die Rollenspieltheorie eine wichtige Inspirationsquelle und ein Werkzeug sein, um die eigenen Spiele zu verbessern und auf bestimmte Spielerfahrungen auszurichten.
- Anregungen für das eigene Spiel: Auch wenn man kein Spieldesigner ist, kann man aus der Rollenspieltheorie Anregungen und Ideen für das eigene Spiel und die eigene Spielleitung ableiten.
Fazit
Rollenspieltheorie ist ein spannendes und vielschichtiges Feld, das sich mit der systematischen Untersuchung von Pen-and-Paper-Rollenspielen beschäftigt. Sie bietet Modelle, Konzepte und Begriffe an, um die verschiedenen Aspekte des Hobbys zu analysieren, zu beschreiben und zu verstehen. Obwohl die Rollenspieltheorie oft kontrovers diskutiert wird und nicht unumstritten ist, kann sie doch wertvolle Impulse und Anregungen für Spieler, Spielleiter und Spieldesigner liefern. Indem sie das Bewusstsein für die Vielfalt der Spielstile und die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Hobby schärft, trägt sie dazu bei, das Pen-and-Paper-Rollenspiel in all seinen Facetten zu würdigen und weiterzuentwickeln. Letztlich geht es darum, das eigene Spiel zu reflektieren, die eigenen Vorlieben zu erkennen und gemeinsam mit anderen noch mehr Spaß und Erfüllung in diesem wunderbaren Hobby zu finden.